Es war der zweite Tag für Lady am neuen Stall. Bei der Ankaufsuntersuchung zwei Tage zuvor hatte sie so sehr geschwitzt, dass sie kein trockenes Haar mehr am Körper hatte. Leider führte das wohl dazu, dass sie darauf hin Symptome einer Erkältung zeigte. Zusätzlich bekam sie an der Brust eine mächtige Beule, weshalb ich direkt den Tierarzt anrief. Einige Zeit später kam ein sehr großer blonder Typ auf den Hof gefahren, es schien als wäre er bei der überwiegend weiblichen Stallgemeinschaft recht beliebt und auch auf mich machte er einen recht netten Eindruck. Nach einer kurzen Begrüßung ging er zielstrebig auf Lady zu, die in der Mitte der Remise beidseitig angebunden stand. Kurz vor ihr holte er mit seinem Arm aus und packte mit Schwung und wahrscheinlich auch Kraft in die Beule. Es knallte und wie! Lady stand auf den Hinterbeinen, beide Stricke gerissen und der große Tierarzt lag zu meinen Füssen am Boden.
Er entschuldigte sich sofort und sagte: „Das war mein Fehler”. Für Lady allerdings waren ab diesem Zeitpunkt große männliche Tierärzte passé. Und scheinbar nicht nur für Lady.
Warum ich Dir diese Geschichte erzähle, weil sie sich genauso zugetragen hat und wohl auch einen großen Einfluss auf uns beide gehabt hatte.
Der Tierarzt hat in Lady eine heftige Gegenreaktion ausgelöst. Eins steht fest, je deutlicher die verknüpfte Emotion in diesem Augenblick ausgelöst wird, um so tiefer sitzt leider auch die unterbewusste Erinnerung an diese Situation.
Aber fangen wir einmal viel weiter vorne an.
Diese uralte Reiz – Reaktionskette war und ist bis heute für jedes Individuum überlebenswichtig. Du weißt schon, die Geschichte mit dem Säbelzahntiger. Hätte das Pferd auf das Knacken im Busch nicht schreckhaft reagiert, wäre das Urpferd schnell von der Erde verschwunden und wir hätten ohne Pferde leben müssen.
Aber! Im Gegensatz zu meiner Erfahrung können wir eine Sensibilisierung auf einen gewissen Reiz auch positiv nutzen, indem wir unser Pferd auf unsere Hilfen “sensibilisieren”.
Möchtest du wissen, wie? Dann könnte der nachfolgende Beitrag sehr aufschlussreich für dich sein.
Was bedeutet Sensibilisierung?
Das Wort Sensibilisierung kommt von sensibel und die Wortbedeutung von sensibel lautet: Bedeuten machen – Bewusstsein für etwas schaffen.
In der Verhaltensbiologie spricht man vom einfachsten Lernen, der Sensitivierung (wie es hier genannt wird). Diese einfachste Form des Lernens gehört zum nicht-assoziativen Lernen. Eine Lernform, die unbewusst und ohne Einfluss des Individuums einfach durch eine Reiz – Reaktionskette entsteht.
Ein lauter Knall aus dem Nichts – dein ganzer Körper zieht sich zusammen, springt sogar etwas zur Seite. Hast du das schon einmal erlebt? Bestimmt! Hast du darüber nachgedacht? Bestimmt NICHT!
Zusammengefasst ist eine Sensibilisierung (Verhaltensbiologisch: Sensitivierung) eine Reaktion auf einen Reiz, der eine relevante Bedeutung für das Lebewesen hat.
Bei der Sensitivierung, also dem Sensibel machen auf einen Reiz, muss man darauf achten, dass die Reizschwelle durchbrochen wird. Folgendes Beispiel: Das Pferd empfängt ein Signal (also einen Reiz) hier den Druck oder Impuls des Schenkels, diesem Reiz muss eine Reaktion folgen. Mit anderen Worten, die Reizschwelle muss durchbrochen werden. Dann und nur dann kann schrittweise die Intensität des Reizes abnehmen und die Reaktion wird bleiben. Das Pferd wird sensibel auf den Reiz, in unserem Fall den Schenkel Impuls.
Wo finden wir diesen Lernvorgang in der Ausbildung eines Pferdes?
Du kommst auf eine Veranstaltung, es sind viele namhafte Reiter / Reiterinnen vertreten. Einer fällt dir ganz besonders ins Auge, sein Pferd reagiert scheinbar wie durch Gedankenübertragung. Mit einer Leichtigkeit, ohne ersichtlichen Druck bewegt sich das wunderschöne Pferd unter ihm.
Es ist eine Freude den Beiden zuzusehen. Was ist das Geheimnis dieser harmonischen Vorführung? Der Reiter hat es geschafft, seine Signale (Hilfen) dem Pferd so zu vermitteln, dass es mit der Zeit immer sensibler auf diese Signale wurde. Der Druck (zum Beispiel am Schenkel) nahm im Laufe des Trainings immer mehr ab und die Reaktion blieb oder wurde im Idealfall sogar besser. Das ausgebildete Pferd reagiert sensibel auf die leichteste Berührung (Hilfe).
Das Gegenteil von Sensibilisierung
Hört sich doch einfach an mit der Sensibilisierung. Warum zum Henker gibt es dann so viele Reiter, die auf ihrem Pferd mit rotem Kopf sitzen die Beine entweder presst oder ständig mit einem lauten “poch” “poch” “poch” flügelschlag ähnlich auf den Bauch des Pferdes knallen lassen?
Die schlimmste mir untergekommene Variante eines solchen Schauspiels sah ich auf der Equitana. Wo eine der bekanntesten Reiterinnen Deutschlands ihr Können präsentierte. Während der Vorführung zeigten ihre Zehenspitzen vom Pferd weg, die Haken versehen mit dolcharigen Sporen, bohrten sich in ständiger Kreisbewegung in den Bauch des Pferdes. Sie kommentierte ihre vermeintliche Glanzleistung per Mikro direkt vom Pferd, leider (oder vielleicht auch besser so) rang sie selbst so schwer nach Luft, dass man kaum etwas von ihr verstand.
Ein gutes Beispiel dafür, dass Pferde auch abstumpfen können auf die Signale des Trainers. Dies nennt man übrigens Habituation (Gewöhnung) und gehört ebenfalls zu den einfachsten Lernformen.
Was macht also den Unterschied aus? Ganz einfach, das Timing. Na ja, in der Praxis vielleicht nicht immer ganz so einfach.
Gewöhnt sich ein Lebewesen an einen Reiz spricht man im Fachjargon von der Habituation. Ein Reiz, in unserem Fall wieder der Schenkel Impuls, führt zu keiner Reaktion. Das Pferd gewöhnt sich an den klopfenden Schenkel und stumpft förmlich ab. Die Intensität des Reizes kann immer höher werden, eine Reaktion bleibt jedoch aus. Für die Schenkelhilfe relativ schlecht. In anderen Bereichen, wie dem Gelassenheitstraining, eine sehr gute Sache.
Worauf muss ich im Training achten, damit mir die Sensibilisierung auf einen Reiz gelingt.
Dafür müssen wir uns vorab mit der Reizschwelle beschäftigen. Was ist eine Reiz-schwel-le? Laut Definition ist eine Reizschwelle die Grenze, in der ein Reiz bei den getroffenen Nerven eine entsprechende Reaktion auslöst. Also der Übergang zwischen Stillstand und Veränderung.
Hier ein kleines animiertes Video dazu.
Nachdem wir nun wissen, wie Einfluss reich manche Reize sein können, gehen wir im Training vielleicht etwas bewusster damit um. Wir sollten nicht inflationär Reize senden, sondern zusehen, dass der Reiz, den wir Senden beim gegenüber in der richtigen Weise ankommt. So funktioniert gut Kommunikation.
Soweit die Theorie, jetzt folgt die Umsetzung in der Praxis. Viel Spaß und Erfolg dabei!
Eure Barbara
von Pferdeliebe
Mein Buchtipp zu diesem Thema:
Mensch und Pferd auf Augenhöhe von Vivian Gabor